Die Fähigkeit, deine Aufmerksamkeit auszurichten und ausgerichtet zu halten, gehört zu den tragenden Basiskompetenzen im Yoga. Je mehr du deine Aufmerksamkeit ausrichten kannst, desto besser gelingt es dir, dich zu fokussieren und damit schöpferische Energie ins Fließen zu bringen: Worauf du deine Aufmerksamkeit richtest, das wird wachsen. Somit halten wir ein ausgesprochen kraftvolles Instrument in unseren Händen und es ist gut und wichtig, uns dessen bewusst zu sein.
Im Alltag sehen wir uns oft einer massiven Reizüberflutung gegenüber. Nicht selten werden werbepsychologische und manipulative Strategien eingesetzt, um unsere Aufmerksamkeit zu wecken und zu binden: Unsere Aufmerksamkeit ist eben ein kostbares Gut. Etwas, um das mit allen Mitteln geworben wird.
Es lohnt sich, immer wieder aufs Neue mit etwas Distanz wahrzunehmen, wer welche Strategien und Techniken einsetzt, um uns neugierig zu machen und unser Interesse zu wecken. Angesichts einer erschlagenden Überfülle verlockender Angebote ist Selektion heutzutage eine überlebenswichtige Notwendigkeit. Daher ist es so wichtig geworden, das Ausrichten unserer Wahrnehmung nicht dem Zufall zu überlassen, sondern bewusst zu steuern.
Unterscheidungskraft und Konzentration entwickeln
Um mich auf einen bestimmten Bereich des Lebens einzustimmen, sollte ich wache, bewusste Entscheidungen treffen. In mir trage ich ein feines Gespür dafür, ob mir etwas nützt oder schadet, ob es mich lediglich beschäftigt und zerstreut oder in der Tiefe und nachhaltig nährt. Dieses feine, intuitive Gespür und diese Wachheit – die Unterscheidungskraft (Viveka) – kultivieren wir im Yoga, um dann auch abseits der Yogamatte eine kluge Auswahl im Dschungel der Angebote treffen zu können:
Was ist wirklich wesentlich für mich? Was fördert mich in meiner Entwicklung? Was bringt mich meinen eigenen Zielen näher? Was schenkt mir Freude und Energie? Was führt in die Freiheit? Was unterstützt Klarheit und Zentriertheit? Was nährt meine Beziehungen zu anderen Menschen? Was nährt meine Wertschätzung für das Leben?
Neben der Fähigkeit, unsere Wahrnehmung auszurichten, brauchen wir auch die Fertigkeit, unsere Aufmerksamkeit über einen längeren Zeitraum ausgerichtet zu halten, ohne den auftauchenden inneren oder äußeren Impulsen gleich nachzugeben, die uns forttragen wollen. Diese Fähigkeit (Dharana – die sechste Stufe im achtgliedrigen Pfad nach Patanjali) ebnet uns den Weg in die Meditation.
Verzicht macht glücklich!
Mehr denn je brauchen wir heute Räume, in denen Konzentration möglich ist. Auch, um in solchen geschützten Orten jene Basiskompetenzen einüben und pflegen zu können, die uns dann auch im herausfordernden Alltag zuverlässig zur Seite stehen.
Mache dir bitte einmal bewusst, dass diejenigen, die deine Aufmerksamkeit begehren, alles, wirklich alles dransetzen werden, um deine Aufmerksamkeit zu gewinnen. Wenn wir jeder Versuchung und jeder Verlockung im Dschungel unzähliger Angebote erliegen, werden wir zum Spielball fremder Interessen und verlieren auf diese Weise viel kostbare Lebensenergie.
Unsere Welt ist heute mitunter dadurch gekennzeichnet, dass wir umgeben sind von einer Fülle wundervoller und hoch interessanter Angebote. Ohne entsprechende Selektion wird es uns auch hier nicht gelingen, in der eigenen Mitte anzukommen. Wir dürfen Frieden schließen mit der Tatsache, dass es – bildlich gesprochen – mehr gute Bücher auf dieser Welt gibt, als wir jemals in unserem Leben lesen können.
Es braucht die Bereitschaft, innezuhalten und sich zu fragen: Wie viel „Input“ kann ich verdauen? Wie viel Zeit brauche ich, um Erfahrenes, Gehörtes und Gelerntes zu integrieren, um es wirklich für mich nutzbar zu machen? Könnte es sein, dass weniger tatsächlich mehr ist?
Meiner Beobachtung nach sind immer mehr Menschen mental hyperaktiv, sprunghaft und zerstreut. Nicht wenige greifen wie ferngesteuert viele dutzende Male am Tag zu ihrem Smartphone. Viele leiden unter dem Gefühl, getrieben zu sein und folgen dem herausragenden Mantra des Westens, dass es nie genug sei. Immer wieder erzählen mir Menschen, dass sie auch in der Nacht nicht zur Ruhe kommen, weil sich das Gedanken- und Sorgenkarussell in ihnen unablässig weiterdreht.
Lerne, dich an den Zwischenräumen zu erfreuen
Ich bin unendlich dankbar dafür, dass ich in jeder einzelnen Yogastunde, ob ich diese nun gebe oder daran teilnehme, diese Basiskompetenz der „ Konzentrationsfähigkeit“ erproben kann. Mit den Übungen im Yoga lerne ich, bewusst eine Auswahl zu treffen und mich einzustimmen, um in die Tiefe gehen zu können. Ich kann lernen, den Verlockungen zu widerstehen, um nicht ruhelos von einem zum anderen zu hüpfen. Ich kann lernen, Schwerpunkte zu setzen und mit Freude dranzubleiben.
Um nicht im Dschungel informativer Dichte die eigene Mitte zu verlieren, braucht es Mut zur Lücke und Freude an Zwischenräumen. In diese Räume der Weite, in denen anscheinend nichts Weltbewegendes geschieht, kann ich mich „getrost“ hineinentspannen, kann mich ganz und vollständig fühlen. So schaffe ich einen wohltuenden Raum für Neues, das zu mir kommen möchte, wenn es an der Zeit ist.
Zum Ende einige ergänzende Fragen, die mir zu stellen lohnenswert erscheinen, wenn es um das wache Ausrichten meiner Aufmerksamkeit geht: Wie verteile ich meine Aufmerksamkeit zwischen meiner Innenwelt und der Welt, die mich im Außen umgibt? Zwischen Grob- und Feinstofflichem? Zwischen Wesentlichem und Unwesentlichem? Zwischen dem, was in die Enge oder in die Weite treibt – in die Angst oder die Liebe führt?
In meiner Mitte kann ich nur ankommen, wenn es mir gelingt, aus dem Hamsterrad auszusteigen und Automatismen mehr und mehr aufzulösen. Verzicht macht glücklich. Weniger ist mehr.
Noch ein letzter Aspekt, der mir an dieser Stelle wichtig ist:
Wenn ich dann, in meiner Kraft ruhend, hinausgehe auf den Marktplatz der Welt, kann ich mich dazu entscheiden, aus einem Überschuss an Energie heraus, meine Aufmerksamkeit für andere Menschen zum Geschenk zu machen, als einen Akt der Nächstenliebe. Ich entscheide mich dann, in Begegnungen meine Aufmerksamkeit als Geschenk mit anderen zu teilen, ohne dies an Bedingungen zu knüpfen oder weil ich mir einen Vorteil davon verspreche.
So wie jeder von uns, so habe auch ich mit diesem kleinen Artikel um Aufmerksamkeit geworben. Danke, dass du dir einen Moment Zeit genommen hast. Ich weiß dies sehr zu schätzen. Namaste!