Wir sind viel mehr als nur unser Körper und unser Verstand. Wir sind auch die Leerheit. Die Leere, in der es keine Form gibt und die gleichzeitig alles umfasst. Freu dich darauf, DAS, was nicht in Worte zu fassen ist, zu erfahren.
Sei leer, sei ruhig.
Sieh zu, wie alles kommt und geht.
Es kommt aus der Quelle und kehrt dorthin zurück.
Das ist der Weg der Natur.
Tao Te Ching
Das Wissen um etwas in mir, dass vollkommen frei ist von all der Reizüberflutung, all den Konditionierungen und Anhaftungen hat immer wieder etwas zutiefst Beruhigendes und Befreiendes für mich. Es ist ein Ort, ein Zustand, eine Form jenseits aller Worte und aller Beschreibungen. Es ist ein Ort, an dem der denkende Geist nicht ist und nie sein wird. Diese Leerheit ist dort, wo die Liebe geboren wird und die Welt alles und nichts zugleich ist. Es ist ein Zustand, an dem es kein Du und kein ich mehr gibt. Die Buddhisten nennen ihn „Shunyata“, die Hindus „Brahman“. Andere Traditionen wiederum sagen dazu: „Es ist nicht dies und nicht das“, mit dem Wissen, dass jedes Wort ein Konzept, eine Vorstellung erzeugt, aber das Nicht-in-Worte-zu-Fassende nicht beschreiben kann.
Die Offenbarung
Vielleicht hast du selbst schon einmal diese Erfahrung gemacht. Einen kurzen Moment – oder auch mehrere – zu erleben – an dem du erkannt hast, dass in einem einzigen Schneekristall das ganze Universum enthalten ist und du gleichzeitig wusstet, dass alles zusammenhängt und alles miteinander verbunden und voneinander abhängig ist. Ein Moment, in dem sich das ganze Mysterium des Seins in nur einem Augenblick offenbart hat und du plötzlich durchdrungen hast, was dir bis dahin kein einziges Buch vermitteln konnte.
Diese Erfahrung beschreibt das Unfassbare, das Unerklärliche, das Unbelehrbare. Es ist eine Wahrheit, die jenseits aller begrifflichen Konzepte liegt. Shunyata liegt die Erkenntnis zu Grunde, dass sich alles permanent verändert, nichts von Dauer ist und sich gleichzeitig alles gegenseitig bedingt. Alles ist permanent im Wandeln, nichts bleibt jemals gleich, kennt keine feste Substanz und somit auch keine in Stein gemeißelte Wahrheit.
Alle Dinge sind in Wahrheit leer
Das Herz-Sutra, eines der zentralen Sutras im Buddhismus beschreibt die Essenz der buddhistischen Lehre und somit auch die Essenz der Leerheit folgendermaßen: „Alle Dinge sind in Wahrheit leer. Nichts entsteht und nichts vergeht. Nichts ist unrein, nichts ist rein. Nichts vermehrt sich und nichts vermindert sich. Es gibt in der Leere keine Form, keine Empfindung, Wahrnehmung, geistige Formkraft und kein Bewusstsein. Keine Augen, Ohren, Nase, Zunge, Körper oder Geist. Es gibt nichts zu sehen, hören, riechen, schmecken, fühlen oder denken. Keine Unwissenheit und auch kein Ende der Unwissenheit, kein Altern und auch keinen Tod, noch deren Aufhebung. Kein Leiden und keine Ursache des Leidens, kein Auslöschen und keinen Weg der Erlösung. Keine Erkenntnis und auch kein Erreichen.“
Diese Aussage klingt für unseren Verstand natürlich vollkommen paradox – und das ist das Leben in gewisser Weise auch – weil es zwei Sichtweisen gibt, aus denen wir das Leben betrachten können: aus der Sicht des Verstandes und aus der Erfahrung der Leerheit.
Unsere Wirklichkeit besteht nicht nur aus dem, was wir im Labor messen und über den Verstand erkennen können. Dieses sinnliche, kognitive Erleben stellt eine Seite unserer Realität dar. Und die andere Seite ist dieser Zustand, den wir erfahren, wenn wir ganz leer werden und die Erfahrung machen, dass sich die Dualität und das lineare Raum-Zeit-Erleben auflösen.
Gib dich der formlosen Gestalt der Wirklichkeit hin
Ein bekanntes Beispiel aus dem Buddhismus, das versucht, uns diese Erfahrung näher zu bringen, dreht sich um eine Tasse Tee: Wir sehen die Tasse und den Tee darin, weil wir eine bestimmte Vorstellung von einer Tasse sowie von Tee in der Tasse haben. Deshalb erkennen wir die Form von beidem. Der Buddhismus schaut sich die Tasse und den Tee genauer an und analysiert sie im ersten Schritt: Tasse ist dann Ton plus Glasur. Der Ton besteht aus feinkörnigen Mineralien, feinkörnige Mineralien sind kristalline chemische Verbindungen und so weiter. Die gedankliche Analyse geht so weit, bis sie an einen Punkt kommt, an dem der Verstand kapituliert und wir uns dann in einem zweiten Schritt die Frage stellen: „Was bleibt?!“ Die Antwort hierauf können wir allerdings nicht mehr kognitiv lösen. Vielleicht lautet diese dann für den einen „Gott“ und für den anderen „Transzendenz“.
Eine solche Erfahrung können wir aber nur machen, wenn wir uns leer machen und dafür öffnen, dass es mehr gibt, als das, was wir sehen können. Ohne die Hilfe des Verstandes werden wir erfahren, dass sich alles im ständigen Wandel befindet und eben weil sich alles wandelt, nichts existiert, an dem wir festhalten können.
Der japanische Zenmeister Kodo Sawaki und viele andere Lehrer, die diese Erfahrung geschaut haben, empfehlen uns, von Worten abzulassen und uns der formlosen Gestalt der Wirklichkeit zuzuwenden, eben weil sich alles stehts wandelt und Leere und Form einander bedingen. Was damit gemeint ist, kannst du an einer ganz einfachen Erfahrung überprüfen, wenn du dich heute – um beim Bild des Tees zu bleiben – über eine ganz bestimmte Sorte grünen Tee freust, sie aber morgen schon wieder vollkommen an Wert für dich verloren hat. Das ist eine direkte Überprüfung dessen, dass sich alles permanent verändert und immer nur so viel Wert hat, wie du ihm selbst gibst.
Die Annäherung an die Leerheit erleichtert auch das Verständnis der „zwölfgliedrigen Kette des Bedingten Entstehens“, die erklärt wie das menschliche Leid entsteht. Wer diese Zusammenhänge durchdringt, der wird auch die Leerheit in einer tieferen Deutlichkeit erschließen und einen Weg zur Beendigung des Leidens erfahren. Diese Erkenntnis wird im Buddhismus übrigens als die wichtigste Einsicht auf dem Weg zur Erleuchtung bezeichnet.
Die zwölfgliedrige Kette des Bedingten Entstehens
Der buddhistische Pali-Kanon bezeichnet das Erkennen des Bedingten Entstehens als das Ergebnis der Meditationspraxis von Buddha. Zusammen mit den Vier Edlen Wahrheiten bildet es die zentrale buddhistische Lehraussage. Die Einsicht in diese Wahrheit erhob Gautama Siddharta zum Buddha und erklärt den Werdeprozess des Menschen, ohne auf die Vorstellung eines Schöpfergottes oder eines ewig währenden Selbst zurückzugehen.
- Avidya: Unwissenheit. Ignoranz
Unwissenheit bildet die Grundlage allen Leidens. Da wir nicht in der Lage sind, eine übergeordnete Wahrheit zu erkennen, entstehen:
- Sanskara: Gewohnheitsmuster. Formationen
Diese Muster können positiv, negativ oder neutral ausfallen. Zusammen mit Avidya erzeugen sie das Karma. Sanskara wiederum ist die Grundlage für…
- Vijnana: Bewusstsein.
Es ist ein Bewusstsein, das vom erleuchteten Selbst getrennt ist und die Illusion, die das Selbst überlagert noch nicht durchdrungen hat und somit das Potential für weitere Identifikationen hat. Es nimmt die Welt nur wahr als…
- Namarupa: Name und Form. Verstand und Körper.
Es ist die äußere Form, die wir als Formen erleben und mit Namen besehen und die bedingt entstehen, ohne dass wir ihre wahre, höhere Natur kennen.
- Salayatana: Die Sinnestore
Damit gemeint sind unsere Sinne und der denkende Geist, den man im Buddhismus zu den Sinnen zählt. Sie ermöglichen uns die Wahrnehmung und gleichzeitig …
- Sparsa: Berührung. Kontakt
Durch die Fähigkeit, die Welt über die Sinne zu erfahren, trifft der Sinn auf das Objekt. Das Zusammentreffen von Sinnesfähigkeit, Sinnesorgan und Objekt lässt Berührung entstehen. Durch diese Wahrnehmung entsteht das nächste Glied:
- Vedana: Empfindung
Unser Geist ist permanent mit Objekten und Empfindungen beschäftigt, die diese auslösen. Es gibt drei Arten von Empfindungen: angenehme, unangenehme oder neutrale.
Entweder hören wir, denken, sehen, schmecken oder fühlen wir etwas – und das permanent, so dass wir diese Sinnesempfindungen als unsere Existenz wahrnehmen. Das wiederum ist die Grundlage für:
- Tanha: Begierde. Verlangen.
Es ist das Verlangen nach Identifikation, nach Werden. Der Wunsch nach „Ich will“ oder „ich will nicht“. Das Verlangen führt schließlich zu …
- Upadana: Anhaften. Ergreifen.
Hier entstehen sämtliche Gedanken, Ideen und Vorstellungen von „ich und mein“. Wir wollen das Objekt auf jeden Fall haben, egal wie hoch der Preis dafür ist. Daraus entsteht:
- Bhava – Werden.
Bhava beinhaltet alles, was jemals durch unsere karmischen Handlungen in Gang gesetzt wurde. Es sind unsere Handlungen und die Resultate unserer Handlungen.
- Jati – Entstehung einer Handlung
Die Geburt einer Handlung kann verbal, körperlich oder gedanklich entstehen.
- Jaramaranam: Alter und Tod.
Mit diesem letzten Glied der Kette beginnt der Kreislauf wieder von vorne.
Diese zwölfgliedrige Kette wird gerne unter verschiedenen Aspekten analysiert. Zeitlich: die ersten beiden Glieder gehören dem vergangenen Leben. Die Glieder 3-7 sind die Bedingungen und die Glieder 8-10 die Früchte des aktuellen Lebens. Und die letzten beiden Glieder werden dem zukünftigen Leben zugeordnet, mit ihnen wird der Kreislauf des Daseins (samsara) beschrieben.
Dich selbst leer zu machen für diese Erfahrung ist die Voraussetzung. Genauso wie eine Tasse, die mit Tee gefüllt ist, erst leer werden muss, um den Grund der Tasse zu sehen und um zu erkennen, dass eigentlich alles leer ist und es an uns liegt, ob und welche Form wir ihm schenken, dem Leben, jedem Erlebnis, den Empfindungen, allem.