Diesmal: Chitta als die Sammlung aller Erfahrungen
Über dies haben wir in den vergangenen Teilen der Kolumne gesprochen: Viele Schauspieler betreten die Bühne unseres Geistes – Wahrnehmungen, Instinkte, Gedanken, Gefühle, Intuitionen. Wir haben Intelligenz. Wir wachsen und entwickeln Weisheit. Alles das wird gebündelt von jenem Gedanken oder Gefühl, das uns nach dem Aufwachen morgens zuerst beschleicht: „Hier bin ich!“ Das Ich, sagte der indische Weisheitslehrer Ramana Maharshi, sei der erste Gedanke, den wir haben. Alle anderen Erfahrungen entspringen dann hieraus.
Ein Element zur Beschreibung unseres Geistes fehlt uns noch. Auch hieran bindet das Ich seine Fäden. Wir nennen es so, wie wir das Ganze nennen, nämlich Chitta, und meinen unsere Erinnerungen. In der Yogaphilosophie ist es nicht ungewöhnlich, dass der Teil einer Sache so heißen kann wie das Ganze. Bei Chitta, den Erinnerungen, passt das auch sehr gut, denn dieses Wort heißt so viel wie „alles Erfahrene“. Unser Geist, so die Idee, speichert jede Erfahrung, sei uns diese nun bewusst oder in den unauslotbaren Tiefen des Unbewussten versteckt. Chitta umfasst das Bewusste wie das Unbewusste gleichermaßen und formt uns als Mensch. Wir könnten sagen: Die Person, die wir sind, ist die Summe der Erfahrungen, die wir gemacht haben. Nur ein verschwindend geringer Teil davon ist uns bewusst. Manches erleben wir in Träumen. Einiges indes wird so verdrängt, dass es vergessen scheint. Dennoch prägt es unser Fühlen, Denken und Handeln. Der Biologe Bruce Lipton schrieb, dass wir zum allergrößten Teil nur aus dem Unbewussten heraus gelenkt würden. Und dennoch bilden wir uns ein, bewusste Wesen zu sein.
Wir groß die Dimension des Unbewussten ist, übersteigt unser Vorstellungsvermögen: Es umfasst alle Erinnerungen aus allen Existenzen, die wir je durchlebt haben. (Vor diesem Hintergrund scheint es nicht unberechtigt, den Begriff Chitta schlicht als das Unbewusste zu übersetzen und folgerichtig das Programm des Yoga als fortdauernden Prozess der Bewusstmachung und Bewusstwerdung zu verstehen.) Die Yogaphilosophie jedenfalls geht, wie die meisten spirituellen Traditionen der Menschheit, ganz selbstverständlich davon aus, dass das Leben ein Kreislauf ist, in den wir einst eingetreten sind und es immer wieder aufs Neue tun. Das Leben kommt nicht aus dem Nichts. […]