Wenn wir spirituelle Texte wirklich verstehen möchten, brauchen wir mehr als nur einen scharfen Verstand. Häufig erschließen sich die alten Schriften erst auf einer anderen Ebene unseres Bewusstseins in ihrer wahren Tiefe und poetischen Schönheit
Jeder Yogalehrer lernt sie in seiner Ausbildung kennen: Die Bhagavad-Gita, die Yoga-Sutras des Patanjali und die Hatha-Yoga-Pradipika – die drei wichtigsten Quellenschriften des Yoga. Einer älteren Zeit und Bewusstseinsverfassung entstammend, werfen diese Urtexte des Yoga aber oft große Hindernisse für den auf, der sie wirklich studieren möchte. Ihre Inhalte sind den heutigen Übenden zwar oft im Groben bekannt, aber nur wenige finden wirklich hindurch zu den tiefen Wahrheiten, die darin geschildert sind. Mit diesem Artikel soll daher die hohe Kunst des Svadhyaya, des von Patanjali in den Niyamas empfohlenen Schriftstudiums, in einigen Aspekten näher beleuchtet werden.
Der Begriff Svadhyaya setzt sich aus den Silben „sva“ („selbst“) und „adhyaya“ zusammen; „adhyaya“ bedeutet „Lektion“ oder „Kapitel“ eines schriftlichen Werkes. Nehmen wir die beiden Silben zusammen, können wir also in etwa den Begriff des „Selbststudiums“ ableiten. Svadhyaya umfasst eine Art Selbststudium mit meditativem Charakter. Es ist nicht nur reflektierender Art, wie es ein normales Studium wäre, sondern erfordert, ähnlich wie die Meditation selbst, eine vertiefte Ausbildung der Konzentration und eine wiederholte Praxis.
Der überforderte Verstand
Das Studium der Quellentexte des Yoga stellt, wie bereits erwähnt, eine große Anforderung an die Flexibilität und Freiheit unseres Bewusstseins. Lesen wir ein Buch oder einen Zeitschriftenartikel mehr zu unserer Unterhaltung, dann benötigen wir bei Weitem nicht das enorme Maß an innerer Aktivität, das uns beispielsweise die extrem meditativ verdichteten kurzen Sutras von Patanjali abverlangen. Wir ahnen, dass wir, wenn wir die darin niedergelegten Gedanken und Empfindungen des Autors wirklich begreifen oder zumindest erahnen möchten, zuerst lernen müssen, uns zu den Höhen, aus denen der Autor spricht, emporzuschwingen. Unser heute in Universität und Schule einseitig trainiertes intellektuelles Denken hat damit aber größte Mühe. Die Texte enthalten für uns erst einmal völlig fremd klingende Begriffe, und der damit überforderte Verstand ist sogleich vollauf damit beschäftigt, nach Definitionen und Erklärungen für diese neuen Begriffe zu suchen. Dadurch verliert sich aber der unbefangene, ruhige Blick auf das, was in diesen Texten darauf wartet, von uns entdeckt zu werden.
Um leichter verständlich zu machen, welche Schwierigkeit […]