Der menschliche Körper als Tensegritätssystem: eine neue Sicht auf unsere Anatomie – und was sich für die Praxis daraus ergibt
Innerhalb unseres menschlichen Körpers und zwischen allem Gewebe gibt es ein ordnendes System. Das Bauprinzip, das unsere vielen Körperbereiche wie ein bewegliches Raum-Mosaik vereint und dabei sowohl Stabilität als auch Beweglichkeit garantiert, nennt sich Tensegrity oder Tensegrität. Tensegrity ist ein Kofferwort aus den beiden englischen Wörtern tension (Spannung) und integrity (Ganzheit, Einheit). Das Konstruktionsprinzip der Tensegrität entstammt der Kunst und Architektur des vergangenen Jahrhunderts und bezeichnet ein Tragwerksystem, das aus scheinbar durcheinander im Raum angeordneten Stäben und Seilen besteht und ein in sich geschlossenes und stabiles System bildet. Das Faszinierende an diesem System ist, dass sich die gesamte Struktur durch Zug und Druck selbst stabilisiert. Auf die Seile wirken Zugspannungen, während die auf Druck beanspruchten Stäbe in einem Netz aus kontinuierlichem Zug zu schweben scheinen. Das macht die ganze Struktur sehr anpassungsfähig. Wirkt von außen eine Kraft auf das System, reagiert das ganze Gebilde, indem es sich dynamisch ausrichtet und anpasst. Die Kräfte werden räumlich verteilt, so dass ein neues Gleichgewicht entsteht.
In unserem Körper entsprechen den festen Bestandteilen des Tensegritätssystems unsere Knochen, die sich nirgends im Körper direkt berühren, sondern durch Muskeln und Bindegewebe „flexibel verbunden“ sind, nämlich durch Sehnen, Bänder und Kapseln. Die myofaszialen Strukturen repräsentieren in diesem System den Zug, der die Knochen über das Spannungssystem der Faszien sowohl miteinander verbindet als auch auf Abstand hält. Der Unterschied zwischen architektonischer Baukunst und dem menschlichen Körper ist der, dass in unserem Körper keine geraden Linien zu finden sind. Alles ist geschwungen und besteht aus Bögen und Krümmungen aller Art. Gleichzeitig bestehen wir, im Gegensatz zu einem Haus, mehrheitlich aus Flüssigkeiten – aus Blut, aus der Lymphflüssigkeit und dem Zellplasma.
Die neue Sichtweise des Körpers ergänzt das bisher gängige Bild der Wirbelsäule als ein rein auf Druck ausgelegtes „Bauklötzchen- bzw. Säulen-Prinzip“. Sie wird durch unsere Muskeln und Faszien in ihrer Funktion unterstützt. Thomas Myers vergleicht die Wirbelsäule von den statischen Verhältnissen her mit einem Segelschiff mit Mast, Takelage und Wanten. Der Mast an sich trägt kein Gewicht, wie z.B. eine Säule, sondern dient als festes Element innerhalb eines Verspannungssystems, das erst über die Zugseile seine dynamische Stabilität erhält.
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