Seit vierzehn Jahren schreibt Wolfgang Bischoff zu jedem Vollmond einen kontemplativen Text. Er lädt Menschen weltweit dazu ein, sich von 21 bis 22 Uhr der jeweiligen Ortszeit aufrecht und bequem in eine Meditationshaltung zu begeben, still zu werden, den Text zu lesen und auf sich wirken zu lassen, und dann mit der persönlichen Meditationsübung zu beginnen.
Liebe Menschen,
am heutigen Sonntag, den 28.3., können wir wieder eine Stunde im Schweigen verbringen und uns mit all denen in der Welt verbinden, die sich geistig auf diese Stille des Frühlingsvollmondes einstimmen.
Ich möchte mit euch eine Begebenheit teilen, die sich im Jahr 2007 in einer U-Bahn-Station abgespielt hat:
An einem kalten Januarmorgen stand ein junger Mann mit einer Geige in einer U-Bahn-Station und spielte als Straßenmusikant sechs Bach-Stücke, ungefähr eine dreiviertel Stunde lang. In dieser Zeit eilten rund zweitausend Menschen auf ihrem Weg zur Arbeit an ihm vorbei. Nach ungefähr drei Minuten blieb ein Mann kurz stehen, lauschte und eilte dann weiter. Vier Minuten später warf die erste Passantin im Vorübergehen eine Geldmünze in den Hut. Nach weiteren sechs Minuten blieb ein junger Mann stehen, lauschte kurz, sah dann auf seine Uhr und eilte weiter. Nach zehn Minuten blieb ein drei Jahre alter Junge stehen und staunte den Musiker an. Die Mutter zog ihn ungeduldig weiter. Der Junge blieb wieder stehen, aber die Mutter zog an ihm und zerrte ihn in ihre Richtung, während er den Kopf zurückdrehte und fortwährend den Musiker ansah. Das passierte noch mit mehreren Kindern, und immer wieder – ohne Ausnahme – zogen die Eltern die Kinder, ohne Rücksicht zu nehmen, mit sich fort.
Nach 45 Minuten – der Musiker hatte unaufhörlich gespielt –, waren sechs Personen kurz stehen geblieben und hatten der Musik gelauscht, zwanzig Vorübereilende hatten in den Hut insgesamt 32 Euro geworfen. Schließlich hörte er auf zu spielen. Niemand merkte es, niemand applaudierte. Die Geschäftigkeit des belebten Schweigens herrschte wieder vor. Es gab keinerlei Anerkennung. Und niemand wusste, dass es sich bei dem Musiker um Joshua Bell handelte, einen der größten Musiker dieser Welt. Er hatte die erhabensten Stücke Bachs gespielt, auf einer Violine, die 3,5 Millionen Euro wert ist. Zwei Tage vorher hatte Joshua Bell ein Konzert in einem ausverkauften Konzertsaal gegeben und die gleiche Musik gespielt. Für die über tausend Plätze hatten die Besucher im Durchschnitt je 100 Euro bezahlt.
Diese wahre Geschichte beruht auf einem sozialen Experiment über Wahrnehmung, Achtsamkeit, Geschmack und die Prioritäten im Leben, das von einer Zeitung organisiert wurde. Das Experiment wirft verschiedene Fragen auf:
- Können wir Schönheit in der Öffentlichkeit in gewöhnlichen Alltagssituationen wahrnehmen?
- Wenn ja, bleiben wir dann stehen und genießen sie?
- Können wir ganz besondere Fähigkeiten und „Wunder“ in einem unerwarteten Zusammenhang erkennen?
Eine mögliche Schlussfolgerung könnte sein:
Wenn wir keinen einzigen Moment Zeit haben, um anzuhalten und einem der größten Musiker dieser Welt zu lauschen, der die erhabenste Musik dieser Welt spielt, und dies auf einem der kostbarsten Instrumente, die es gibt – wie viele andere Dinge übersehen wir dann, während wir so durch das Leben eilen?
Genieße das Leben jetzt! Jeder Lebensaugenblick ist einzigartig. Yoga bedeutet, jedem Lebensaugenblick Würde zu verleihen.
In diesem Sinne wünsche ich euch eine besinnliche, stille Stunde, voller Erhabenheit und Schönheit.
Jetzt schon vormerken: Einen Beitrag zum April-Vollmond findest du in der nächsten Ausgabe von YOGA AKTUELL. Wer die Texte zu jedem Vollmond geschickt bekommen möchte, kann sie beim Himalaya Institut e.V. unter der E-mail-Adresse vollmond-newsletter@himalaya-institut.de bestellen. |